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Dieser Text dürfte 2016 entstanden sein und wurde von mir ursprünglich für die leider abgeschaltete Online-Publikation "Denkhandwerker" von Koll. Oppermann geschrieben. Ich denke, die Zustände sind noch dieselben. Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, wie empfindlich diese sogenannten "Ökosysteme" auf den Ausfall einer einzelnen Spezies reagieren. Das bestätigen auch die Streiks der polnischen Lkw-Fahrer in Hessen, die derzeit die Nachrichten füllen.

10. April 2023

Gier und Inkompetenz

Die Volkswagen AG hat ein Problem. Wie sehen die öffentlich zugänglichen Fakten aus: Zulieferern wurden die Verträge gekündigt. Die Zulieferer sind damit nicht einverstanden. Sie setzen Lieferungen aus. In Volkswagen-Werken stehen deshalb die Bänder still. Das Volk soll Volkswagen mit Kurzarbeitergeld helfen. 

Was kann man noch wissen: Die Automobilbauer und ihre Zulieferer nennen sich OEMs (Original Equipment Manufacturers) und haben jahrelang ihre Produktion auf weitere Zulieferer und ihre Lagerhaltung auf die vom Steuerzahler bezahlten Autobahnen und zudem auf die Schiene verlagert, die ja ebenfalls vom Steuerzahler bezahlt wurde, auch wenn dort die Besitzverhältnisse inzwischen verschoben wurden. 

Die gute alte IT soll dabei helfen, die Kosten immer weiter zu senken. Just-in-time und Just-in-sequence nennen sich die Grundprinzipien, die die Autobahnen verstopfen und Lagerhaltungskosten auf ein Minimum reduzieren. Computergenau wird berechnet, wie schnell ein Zulieferer seine Ware anzuschleppen hat. Die Risiken liegen selten beim Auftraggeber. Die Bedingungen der OEMs sind dabei so hart, dass schon manch „kleiner“ Spediteur oder Teilelieferant unter die Räder gekommen ist. Dabei sind die Zulieferer keineswegs klein im Sinne einer fünfköpfigen Familienfirma, die in Heimarbeit irgendwelche Knöpfe zusammenbosselt, sondern es sind Unternehmen mit hunderten oder gar tausenden Arbeitnehmern – und deren Schicksal ist unweigerlich an das Wohlwollen der Einkäufer der OEMs gebunden. 

Die Automobil-OEMs knechten ihre Zulieferer mit extrem harten Verträgen. Dazu gehören nicht nur nahezu bedingungslos einzuhaltende Lieferversprechen, sondern beispielsweise auch knallharte Forderungen hinsichtlich der zu verwendenden Informationstechnik. So muss ein Autositz oder ein Getriebegehäuse eben mit einer ganz bestimmten CAD-Software entwickelt werden. Die Intellectual Property geht in vielen Fällen auf den OEM über. 

Das heißt, die Zulieferer können mal nicht eben so einfach ihren OEM wechseln. Nur wenige große wie Bosch, Continental oder EDAG schaffen das Beliefern mehrerer OEMs (deswegen haben alle aktuellen Pkw zum Beispiel die gleiche unsinnige dreistufige Sitzheizung, bei der mit dem Einschalten die höchste Stufe zuerst anliegt). 

Für die Zulieferer bedeutet das teils enorme Investitionen in die eigene IT. Es geht hier nicht um Büro-Software für wenige hundert Euro, sondern um Software im Bereich von 60.000 oder gar 150.000 Euro pro Konstrukteursschreibtisch. Die Kosten für Supercomputer und Hochleistungs-Workstations zur Crash-Simulation, für Belastungstests, zum Kollisionstest beim Einbau oder für die Berechnungen und Nachweise der aktiven und passiven Fahrzeugsicherheit – all sowas muss der Zulieferer durchführen, um an die großen OEMS liefern zu dürfen – sind da noch gar nicht eingerechnet. 

Dies zieht sich durch alle Bereiche und Komponenten eines Autos und durch die ganze Branche. Und das Problem ist nicht neu und nicht einmalig, wie es bei der einen oder anderen Äußerung von Politikern wie dem derzeitigen niedersächsischen Wirtschaftsminister und VW-Aufseher Lies den Eindruck erweckt. Sie brauchen sich an dieser Stelle nur an die Probleme mit den Türen bei Ford zu erinnern. Nicht einmal 20 Jahre ist das her. 

Erwachsen ist diese Gesamtsituation jedoch nicht aus deutscher Ingenieurskunst. Vielmehr ist eine ganz unselige Mischung aus Gier und Inkompetenz daran Schuld: Die eigenen Profite auf Kosten anderer zu steigern (Gier), ohne Rücksicht auf die soziale Verantwortung oder die Arbeitsplätze bei den Zulieferern. Dabei wurde ein Plan B vergessen, weil man sich für unantastbar hielt (Inkompetenz). Dafür rühmt man sich, der Wohltäter der Nation zu sein, weil man hunderttausende Arbeitsplätze geschaffen hätte. Und während Herr Lies mit einem „Ich weiß nicht, woher er sein Wissen bezieht“ die Kompetenz des nun wirklich einschlägigen Experten Dudenhöffer anzweifelt, hält sich der Verband der Automobilhersteller mit dem Ex-Verkehrsminister an der Spitze bei einer Beurteilung der Lage spürbar zurück. 

Gibt es einen Ausweg, der nachhaltig ist? Ja, mehrere: Erhöhung der Fertigungstiefe, faire Verträge mit langfristiger Bindung der Zulieferer und mehr Rechte für die Zulieferer (beispielsweise das Überlassen der Intellectual Property), weniger Glotzen auf den Aktienkurs, mehr Kundenorientierung – und viel mehr Sorgfalt beim Sourcing.