schließen
Sie sind hier:

18. JANUAR 2006

Geheimsache Pappkarton – Informationstechnik in der DDR

"In der DDR war nicht alles schlecht" hört man immer wieder. Teils aus Mitleid, teils aus Ostalgie, teils aus politischer Altbackenheit. Da ist die Rede von einem effektiven System zur Erfassung von Sekundärrohstoffen, das das Dosenpfand und die Korkensammelkiste beim Weinhändler dumm und unausgegoren erscheinen lässt. Selbst der Plattenbau kommt in einzelnen Regionen wieder zu gewissem Ruhm. Aber von der Informationstechnik wird angenommen, dass diese auf dem Niveau der Hollerith-Maschine stehengeblieben wäre. Es gibt also auch mehr als 15 Jahre nach dem Mauerfall noch viel Unbekanntes.

Zu den vielen Unbekanntheiten des DDR-Alltags gehörten die allgegenwärtigen Geheimnisträger. Geheimnisträger wurde man leicht, schon durch eine einfache Unterschrift auf einem Papier zur Vergatterung bei der Einstellung, nichts anderes, als heute ein Non-Disclosure-Paper, das man unterschreiben muss, wenn man wissen will, wohin es mit mit einem IT-Erzeugnis geht. Anders als hierzulande war Geheimnisträgern der Kontakt zu Bürgern aus dem nicht sozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) verboten. Sogar zufällige Kontakte sollten gemeldet werden. Wer also an einer Hotelbar sein Radeberger, das es anderswo nur selten gab, trank und dabei zufällig neben einem "Bundi" (also einem Bundesdeutschen Bürger) saß, hätte diesen nach Namen und Adresse fragen und diesen Kontakt alsbald seinem Sicherheitsbeauftragten melden müssen.

Besonders viele Geheimnisträger gab es in den VOB, den Vereins- und Organisationsgebundenen Betrieben (zum Beispiel bei der Zeitung einer der Blockparteien), und in technischen Unternehmen. Dabei wußte man nichts Geheimeres als ein Durchschnittsangestellter im Westen auch. Aber da der Kalte Krieg spätestens seit dem NATO-Doppelbeschluß ein Kalter Totaler Krieg war, galt praktisch alles, was komplexer als eine Zigarette oder Nordhäuser Doppelkorn war, als ein schützenswertes Geheimnis.

Unsere Mikroelektronik ist nicht kleinzukriegen

Es gab natürlich auch Dinge, die wirklich etwas geheimer waren, z. B. gepanzerte Fahrzeuge, Mikroelektronik und Informationstechnik. Mit dem unter den westlichen Ländern ­ einem oft unterschätzten Höhepunkt im Kalten Totalen Krieg ­ durfte nichts mehr in die Ostblockländer exportiert werden, was auch nur ansatzweise einer militärischen Nutzung zugeführt werden könnte. (Der COMECON-Vertrag war eine Vereinbarung unter westlichen Ländern über den Außenhandel mit den Communist Economy Countries. COMECON ist dabei ein westliches Synonym für RGW. RGW steht für Rat der gegenseitigen Wirtschaftshilfe. Dieser war wiederum so etwas wie die EWG, womit COMECON also letztlich auch bloß den Ostblock bezeichnet. COMECON klang aber besser als Ostblock-Vertrag.)

Rechentechnik war davon besonders betroffen. Während für teure Valuta-Mark, der Staatswährung für den Außenhandel mit westlichen Ländern, die ersten PDP-8-Maschinen in den späten 70ern noch ganz legal von der DDR erworben worden waren, ging nach Comecon nichts mehr. Natürlich wurde dann viel abgekupfert. Aus den PDP-8 entwickelten russische Ingenieure z. B. ein Kleinrechnersystem namens Coulomb. Das ähnelte der PDP-8 sehr stark, bis auf die Tatsache, dass die Konsol-Schreibmaschine wirklich eine Schreibmaschine war. Laut hämmerte diese ihre Begrüßung dem Operator entgegen.

Wie in allen anderen Ländern auch, gab es aber auch in der DDR einen enormen Bedarf für Rechentechnik. Noch in den 60ern stellte Robotron mit dem System R300 einen Mainframe vor, der es mit denen von IBM durchaus aufnehmen konnte. Der R300 bestimmte für viele Jahre das Bild in der Informatik in der DDR. In den 70ern wurde dann innerhalb des RGW ein Programm namens ESER beschlossen. ESER war das Einheitliche System Elektronischer Rechentechnik.

Im Rahmen dieses Programms begann ein reger Technologie- und Wissenstransfer über fast alle Ostblockländer hinweg. Magnetbänder kamen aus Bulgarien oder der DDR, Prozessor- und Speicherchips kamen aus der DDR, die grobe Elektrik aus der UdSSR, etwas feinere aus Ungarn oder Polen usw. Länder, die sich mit Wissen beteiligten, ernteten zum Ausgleich tadschikische Baumwolle, durften aserbaidschanisches Erdöl verbrennen oder kochten mit Gas aus Sibirien.

ESER stellte einen Siebenmeilenschritt in der Entwicklung der IT in der DDR dar. Immerhin waren jetzt Mainframes unterschiedlicher Größe verfügbar, die hier die Lohnbuchhaltung, dort die Produktionsplanung übernahmen. Organisationsautomat und R300 hatten bald ausgedient. Mit dieser Rechentechnik schossen in der DDR Rechenzentren wie Pilze aus dem Boden. Praktisch jede Bezirksstadt erhielt, ebenso wie alle größeren Betriebe, ein Rechenzentrum.

Diese Rechenzentren sahen nicht viel anders aus, als Rechenzentren im Westen. Vielleicht trug man im Westen nicht überall weiße Kittel, dafür aber eine Krawatte. Die Rechenzentren hatten aber einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Systemen in der freien Marktwirtschaft: Sie waren zu hundert Prozent kompatibel. Mithin konnten Einkäufer, die vielleicht bei ihrem Versorger keine Magnetbänder erhielten, einen benachbarten Betrieb fragen. Gleiches gilt natürlich für alle anderen Ersatzteile.

IT-Bedarf in der Mikroelektronik wächst

Besonders begehrt war die moderne Rechentechnik natürlich in den Betrieben des Kombinates Mikroelektronik. Die Hauptstandorte waren Dresden, Erfurt und Frankfurt an der Oder. Zusammen arbeiteten in diesen Betrieben mehr als 10000 Mitarbeiter: Elektronikingenieure, Mathematiker, Physiker, Elektroingenieure, Maschinenbauer, Facharbeiter für Mikroelektronik und Facharbeiter für Informatik und viele andere Berufe waren vertreten. Es galt als durchaus erstrebenswert, in einem dieser Betriebe angestellt zu werden. Grundlagenforschung betrieben universitätsnahe Institute wie zum Beispiel das ZKI (etwa: Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsverarbeitung) in Dresden.

Für die Entwicklung der Mikroelektronik, die aufgrund der Embargo-Politik des Westens völlig eigenständig verlaufen musste, war der Bedarf an guter und sehr guter Rechentechnik besonders hoch. Die Coulomb-Rechner waren bald am Ende ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, dienten aber weiter als Plotter-Rechner für die Ansteuerung der großen Tisch- und Rollenplotter.

So war es für die DDR gut, dass es ganz unscheinbare Betriebe gab, die zur Abteilung Kommerzielle Koordinierung (KoKo) von Herrn Schalck-Golodkowski gehörten. Diese hießen vielleicht Zentrum für Datenverarbeitung oder klangvoll Zentralinstitut. Wesentliche Aufgabe der KoKo war es, Waren und Investitionsgüter, die im Ostblock nicht ausreichend verfügbar waren, irgendwie zu beschaffen. Das waren dann beispielsweise richtige Orangen (im Gegensatz zu den strohigen kubanischen Orangen), Kaffee – und eben Rechentechnik.

Bezahlt wurde mit Valuta-Mark, die nicht nur im Zwangsumtausch der West-Touristen oder dem Handel mit dem verfeindeten Westen, sondern auch im Handel mit Ländern der Zweiten und Dritten Welt gewonnen wurden. So kamen aus der DDR durchaus Investitionsgüter mit einem sehr guten Preis-Leistungs-Verhältnis, wie unter anderem Druckmaschinen, Schwimmpanzerwagen oder in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auch Lebensmittel für Westberlin. Und nicht nur das. Um sich das Wettrüsten leisten zu können, verscherbelte die DDR nahezu alle Erzeugnisse, häufig unter Wert. Dazu gehörten Kräne ebenso wie Werkzeugmaschinen, Kühlschränke, Waschmaschinen, selbst Kerzen und Armee-Socken.

Zuteilung nach Plan

Freilich konnte ein Betrieb nicht einfach einen Rechner bestellen. War die Kapazität der vorhandenen Systeme erschöpft, musste der erhöhte Bedarf per Dienstweg vom Bereichsleiter über den Betriebsdirektor bis zum Minister angemeldet und begründet werden. Die Bereichsleiter, die das am besten konnten, waren übrigens auch nach der Wende erfolgreich. Wenn man nur lange genug insistiert und geschickt argumentiert hatte, stand eines schönen Tages ein Lkw auf dem Hof. Und ein paar Wochen später war ein neuer Rechner im Rechenzentrum verfügbar.

Das war streng geheim und niemand durfte wissen, was auf dem Lkw war. Deshalb kam der Bereichsleiter persönlich in den späten Nachmittagsstunden zu einem ins Büro und meinte, man solle doch bitte jetzt im Bedarfsfalle noch mal die Toilette aufsuchen, aber ansonsten das Zimmer bis 20.00 Uhr nicht verlassen. Allerdings bedurfte es keiner überwältigenden detektivischen Fähigkeiten, um herauszufinden, dass diese Aufforderung und das Erscheinen neuer Rechner in den nächsten drei Wochen auf dubiose Weise zusammenhingen.

Die neuen Computersysteme wurden in einen kleinen, den übrigen Kollegen nicht zugänglichen Raum gesperrt. Damit es für Uneingeweihten nicht ganz so leicht war, die Marke herauszufinden, entfernten andere, etwas Eingeweihtere sorgfältig die Firmen-Logo und die Maschinenschilder mit den Seriennummern von den Gehäusen. Einige pfiffige Systemprogrammierer modifizierten sogar Teile des Betriebssystems, damit nicht gleich jeder beim Login an seinem Terminal weiß, dass er sich gerade auf einer DEC VAX 11/780 unter VMS 5.1 einloggt.

Allerdings offenbarte sich das ganz Geheimnis schnell jedem, der Lesen konnte. Um die Reiseroute, die Marke, die Typenbezeichnung und selbst die Seriennummern der sorgsam "neutralisierten" Computersysteme herauszufinden, brauchte man nur mal sein Altpapier zur Sammelstelle zu bringen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fand man sorgfältig gefaltete Kartons. Schließlich war auch West-Pappe ein wertvoller Rohstoff für das eingangs genannte Recycling-System. Hatte der Karton dann auch noch Kanten-Maße, die mit den Abmessungen der neuen Rechner übereinstimmten, war der Karton in jedem Fall eine unterhaltsame Lektüre.

Interessant war eigentlich nur, dass die Kisten Länder gesehen hatten, in die man selbst gewiss niemals hätte reisen dürfen. Die Amerikas, den halben Nahen Osten und viel vom Mittelmeer hatten die Rechner gesehen, bevor sie in dem kleinen Kämmerlein ihrer Identität beraubt wurden.

Auffällig war allerdings schon die interessante Übereinstimmung zwischen Nachrichten aus dem West-Fernsehen und dem Auftauchen dubioser Lkw. Wenn die ARD von einem Computerdiebstahl im Hamburger Hafen berichtete, zum Teil verschwanden ganze Container, so freute man sich insgeheim, demnächst einen neuen Computer im Rechenzentrum begrüßen zu dürfen. Vorausgesetzt, der Betrieb war mit der Zuteilung dran und der Chef hatte sich ordentlich ins Zeug gelegt.

Hochbegabte und Tüftler

Der Einsatz der neuen Computersysteme war für Techniker, Systemadministratoren und Operator immer eine Herausforderung. So kam es vor, daß der Maschine die Handbücher fehlten oder Handbuch und Betriebssystemversion nicht übereinstimmten. Aber in der Regel war man findig genug. Den Technikern gebührt dabei besonderer Respekt, gelang es ihnen doch oft, auch mit veralteten Wartungsunterlagen und ohne passende Ersatzteile eine VAX zu reparieren.

Auch alle anderen, die mit der wertvollen Rechentechnik hinter den Code-gesicherten Türen des Rechenzentrums zu tun hatten, waren ein bißchen stolz auf ihre Vorreiterrolle, auch wenn sie es eigentlich niemandem erzählen durften. Immerhin waren sie mit Systemen vertraut, die Robotron gerade erst nachbaute.

Erst 1988 kam der K1840 in die Rechenzentren der DDR. Er entsprach, mit Ausnahme der Farbgebung gelb und braun, einer DEC VAX 11/780 und hatte sogar ein ganz ähnliches Betriebssystem, das aber trotzdem nicht dasselbe war. Entsprechend groß war die Enttäuschung bei den Anwendern, die dann doch lieber auf das Original vertrauten. Zum Glück gab es davon etwa so viele, wie erforderlich.

Ein wissenschaftlich-technisches Rechenzentrum hätte dann ungefähr so aussehen können: Mehrere DEC VAX 11/ 11/750- und DEC VAX 11/ 11/780-Maschinen mit 3 bis 5 MB RAM, manchmal eine DEC VAX 11/ 8600 und sogar einige der ersten MicroVAX-Systeme, arbeiten in einer DECnet-Infrastruktur vernetzt. Oft zwei Systeme geclustert, um einen Lastausgleich zu erreichen. Hinzu kam für komplexe Aufgaben wie Logikanalysen der in Entwicklung befindlichen DSPs die eine oder andere Convex CR-Maschine unter einem Unix-Betriebssystem. An diese Maschinen waren dann mehrere Dutzend Terminals angeschlossen. Als Gegenstück zu den russischen Coulomb-Systemen mit kreisrunden Vektorbildschirmen, die eher an ein Flugleitzentrum erinnerten, gab es auf der "richtigen Seite" Tektronix-Workstations und VT-Terminals aller Art. Und obwohl Neid so überhaupt nicht in eine sozialistische Gesellschaft passt, gab es immer Leute, die viel lieber an den neuesten VT220-Terminal arbeiteten, statt an einem VT100 mit der genialen Tastatur, die jeden heutigen Maßstab für Vielschreiber übertraf.

Parallel dazu gab es eine ganze Reihe von Eigenentwicklungen, die zu einem geringen Teil mit den "West-Systemen" kompatibel waren. So wurden im Schreibmaschinenwerk Sömmerda passable Büro- und Kleincomputer gefertigt, deren Betriebssystem zufällig CPM hieß. Robotron baute neben den wenigen VAX-Nachbauten vor allem die zuverlässigen und leistungsfähigen ESER-Systeme. Letztere vor allem für die kommerzielle EDV in den Städten, für die Leitzentren in den Kraftwerken oder für die Arbeit der Ministerien.

Den Westen besiegen, mit West-Technik

Letztlich konnte die DDR dank Einrichtungen wie die KoKo Computersysteme einsetzen, mit denen findige Ingenieure auch große Projekte, wie einen 1-Mbit-DRAM, entwickeln konnten. Und wenn ein bekanntes Hamburger Nachrichtenmagazin behauptete, diese Speicher-Chips wären komplett gestohlen, so entspricht das nicht ansatzweise der Wahrheit. Schaltkreise wie der 1-Mbit-DRAM aus der DDR mögen einem Vorbild von Toshiba entsprechen, aber wer schon einmal versucht hat, einen Schaltkreis vom Siliziumkorn an nachzubauen, weiß, dass das einer Neuentwicklung entspricht.

Von diesen Prestige-Projekten abgesehen (die Gut-Ausbeute bei den 1-Mbit-DRAMs aus der DDR entsprach der Ausschussquote, die Toshiba zu diesem Zeitpunkt erreicht hatte), gab es eine ganze Anzahl Eigenentwicklungen, wie z.B. eine eigene Entwicklung und Fertigung von ASICs oder DSPs.

Viele dieser Entwicklungen waren einfach für die zivile Nutzung gedacht. Aber ganz sicher hatte alles nur das Ziel, den Kalten Krieg zu gewinnen. Deswegen muss man nicht weit denken, um zu verstehen, dass ein DSP möglicherweise auch für ein Raketenabwehrsystem gedacht sein könnte oder ein ASIC Kartendaten für eine Mittelstreckenrakete umformatiert. Ironisch mag es da fast scheinen, dass viele dieser Entwicklungen auf Computern aus dem Westen entstanden. Von dem Know-how der daran beteiligten Informatiker, Elektronikfacharbeiter und -ingenieure wird heute noch profitiert. Viele von ihnen stellen heute das geistige Kapital von Unternehmen wie zum Beispiel Siemens, AMD und ZMD in der Dresdner Gegend dar.

zurück  •   zum Archiv   •  weiter