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19. AUGUST 1996

DDR-Demagogie

(unformatierte, unredigierte Übernahme aus den Beiträgen für die Münchner Mailbox Cubenet)

Weil es mir immer wieder Freude macht, moechte ich Euch exzellente Stellen aus Meyers-Universal-Lexikon, DDR 1981 (Impressum), nicht vorenthalten. Es ist ein fantastisches Beispiel fuer die mehr oder minder subtile Demagogie, die in der DDR zur Volksverdummung diente. (Verzeiht mir die Tippfehler, meistens habe ich die Dinger aus Lust und Laune mitten in der Nacht abgetippt und kommentiert.

Maschine

Maschine (frz., gr.) arbeitverrichtende bzw. energieumformende Einrichtung, die zwanglaeufige Bewegungen ausfuehrt [HL: das Genitiv-S in den Adjektiven fehlt im Original]. K. Marx definierte jede Maschinerie als aus einer Bewegungs-M., einem Transmissionsmechanismus u. der eigentl. Werkzeug- od. Arbeits-M. bestehend. Durch letztere sowie durch die enorme Steigerung des Antriebsbedarfs, der zur Vervollkommnung der Dampf-M. fuehrte, wurde im 18. Jh. in England eine industrielle Revolution eingeleitet u. die Arbeitsproduktivitaet staendig gesteigert. Mit der so ermoeglichten Industrialisierung ging die Entwicklung des Kapitalismus einher; die M. als wichtigstes Prod.smittel wurden Eigentum der Kapitalisten, wodurch sich die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen verstaerkte u. schliessl. im Imperialismus ihrem Hoehepunkt zustrebte. Erst im Sozialismus dienen die M. ausschl. der Befriedigung der Beduerfnisse der Menschen sowie der Vervollkommnung u. Erleichterung des menschl. Lebens.

[Holms Anmerkung]
Besonders interessant ist hier die kurze Beschreibung des Stichworts gegenueber einer ausfuehrlichen systemkonformen philosophischen Abhandlung. Interessant ist aber auch, dass anscheinend die gesamte politische Darstellung von Marx zu stammen scheint, was aber nur fuer die erste Aussage richtig sein kann.

[Marlenes Anmerkung:]
Finde ich klasse. Darf man sich auch Woerter wuenschen? Dann haette ich gern "Amerika" :-)

[Joergs Anmerkung:]
Holm Landrock (holm@cube.net) schrieb: Es ist ein fantastisches Beispiel fuer die mehr oder minder subtile Demagogie, die in der DDR zur Volksverdummung diente.
SUBTIL?!
OK, "mehr oder minder" schreibst Du ja… ;)
Ciao, Joerg

Die Mark

Mark: 1. Grenze […]
2. […befestigtes Grenzgebiet…]
3. seit 1871 deutsche Waehrungseinheit (1924 Renten- u. Reichs-M., 1948 Deutsche M.); 1964/67 als Waehrungseinheit der DDR "Mark der Deutschen Notenbank" (Abk. MDN)
4. siehe Mark der Deutschen Demokratischen Republik [ja, DDR ist auch im Original ausgeschrieben; die Auslassungen betreffen nur die unpolitischen Darstellungen]

Mark der Deutschen Demokratischen Republik, M.: seit 1.1.1968 Waehrungseinheit der DDR, unterteilt in 100 Pfennige; Goldgehalt 0,399902 g Feingold. Wesentl. GFrundlage fuer die Stabilitaet der M. sind die Leitung u. Planung der Volkswirtschaft, die planmaessige Ausgeglichenheit des Staatshaushaltes, die planmaessige staatl. Kreditpolitik u. die Sicherung stabiler Konsumgueterpreise sowie die sich vertiefende Zusammenarbeit mit der UdSSR u. den anderen sozialist. Staaten im Rahmen der sozialist. oekonom. Integration. Die ausschl. von der Staatsbank der DDR ausgegebenen Geldzeichen (in Form von Banknoten und Muenzen) sind das gesetzl. Zahlungsmittel in der DDR.

[Holms Anmerkung:]
Natuerlich gibt es die Mark nicht als Waehrung im boesen Westdeutschland oder bspw. in Finnland. Auch zeigt uns die Erlaeuterung zur Mark d. DDR deutlich, was ein Schachtelsatz in Hoch-DDDRsch ist. Hier gilt besonders der Verbraemung von Substantiven mit wohltoenenden Adjektiven unsere besondere Aufmerksamkeit, weil die Zusammenarbeit mit der UdSSR eben _immer_ "vertieft" ist, so wie die Freundschaft mit der UdSSR eben immer "unverbruechlich" ist.
Interessiert jemanden "Marketing"?

[Millas Anmerkung:]
Ich lese diese Beitraege von Dir immer mit grossem Interesse und denn doch einiger Belustigung. Darum bin ich natuerlich auch dafuer, dass Du (aber unbedingt !) auch die Erguesse ueber das Marketing zum besten gibst.
Adios
Milla

Marketing

Marketing: (engl.) Gesamtheit strateg. u. takt. Massnahmen bes. der Monopole zur kapitalist. Marktmanipulierung (u.a. durch Reklame, Aktivierung von Geltungsdrang, Repaesentationsbegehren) mit dem Ziel wachsender Marktbehrrschung und Profitsteigerung.

[Holms Anmerkung:]
besonders schoen finde ich an diesem Eintrag im DDR-Lexikon von 1981 die Abkuerzung fast aller wesentlichen Adjektive. Und natuerlich, dass es sich hier um eine der denkbar negativ formuliertesten Beschreibungen eines an sich legitimen Werkzeugs der Wirtschaft handelt.

[Marlenes Anmerkung:]
Hehe, wozu brauchen MOnopole noch Marketing :-) Da widerspricht sich der Autor ja selbst. Entweder die Kerle sind Monopolisten, dann brauchen sie an der Marktbeherrschung nicht mehr grossartig zu arbeiten. Oder sie sind es nicht…

Arbeiter- und Bauern-Inspektion

[heute mal was zum dazulernen] Arbeiter- und Bauern-Inspektion der Deutschen Demokratischen Republik, ABI: Auf Beschluss des VI. Parteitages der SED 1963 gegr. umfassendes gesellschaftl.-staatl. Kontrollorgan. Als Organ des ZK der SED u. des Ministerrates der DDR nimmt die ABI innerhalb der staatl. u. gesellschaftl. Kontrolle einen bedeutenden Platz ein. In engem Zusammenwirken mit anderen staatl. (Finanzkontrolle usw.) u. gesellschaftl. (FDJ-Kontroll-Posten usw.) Kontrollorganen uebt die ABI eine umfassende systemat. und operative Kontrolle ueber die tatsaechl. Verwirklichung der Parteibeschluesse u. Rechtsvorschriften aus. Sie stuetzt sich dabei auf weit ueber 100 000 ehrenamtl. mitwirkende Buerger aus allen Schichten der Bev. Das System der ABI reicht vom Komitee der ABI als Organ des ZK der SED u. des Ministerrates der DDR ueber Territorial- u. Zweigorgane bis zu Volkskontrollausschuessen u. gruppen der Volkskontrolle in Staedten, Gemeinden u. Betrieben.

[Holms Anmerkung:]
Interessant ist es vielleicht auch zu wissen, dass die ABI ein durchaus maechtiges und gefuerchtetes Werkzeug der Machthabenden war. Wollte man einen Betriebsleiter, der dem Staate untreu geworden ist, schassen, so schickte man zunaechst mal die ABI los.
Fragt mich nicht, was FDJ-Kontroll-Posten sind. Das habe ich hier zum ersten Mal in meinem Leben gelesen. Zaehlt mal, wie oft in einem Lexikonartikel "Organ", "Kontrolle" und "systematisch" vorkommen. Auch das hatte Methode: Das staendige Predigen von Floskeln und deren Verknuepfung mit Adjektiven. So ist eine "Verwirklichung", insbesondere von Parteibeschluessen, im DDR-Deutsch immer(!) "umfassend".
Wenn man alle Abkuerzungen mitspricht (z.B. ZK der SED fuer Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands), hat man nach dem Vorlesen Fussel am Mund.
Am Schluss sind dem Schreiber des Artikels offensichtlich die Pferde durchgegangen. Jedenfalls scheint die Ausbildung in einer Einrichtung des von Goebbels geleiteten Propagandaministeriums ganz voelkisch zuzuschlagen.

Arbeitgeber

[noch einen zum Schmunzeln] Arbeitgeber: im Kapitalismus irrefuehrende Bez. fuer denjenigen, der Arbeiter ausbeutet.

[Holms Anmerkung:]
Meine Kollegen gucken mich immer mit einem unbeschreiblichen Gesichtausdruck an, wenn ich in der Kueche erwaehne, dass unsere Ausbeuter die 100%ige Lohnfortzahlung angekuendigt haben, immer wieder koestlich :-)
LQI: Das meiste, was im boesen Westen an Begriffen gepraegt oder an Nachrichten gesendet wurde, war "irrefuehrend". Dementsprechend waren Rock'n'Roll-Fans "irregefuehrte" Jugendliche. Bis in die 60er Jahre hinein kam ein ordentlicher Schueler deshalb im FDJ-Hemd in die Schule!

[geps Anmerkung:]
Selbstgenuss der Krisenlage - megastark das sollte man sich echt merken
schorsch

[Moglis Anmerkung:]
Na wenn schon Dekadenz, dann bitte auch "Kompetenz"
Gruss Mogli

[Holms Antwort:]
Was, bitte, ist der Zusammenhang von Dekadenz und Kompetenz? :-)
ratlose Gruesse,
Holm

[ZaraZaras Anmerkung:]
Wenn ich das so lese, faellt mir auf, das die Verfasser recht naive Jungs waren und keineswegs so abgebruehte Zyniker, wie wir sie hier im Bollwerk der bewaffneten Freiheit haben.
Wenn´s wenigstens so waere, dass die Dekadenz der Niedergang der Kultur der herrschenden Ausbeuterklasse ware - aber die real herrschende Ausbeuterklasse hatte doch nie eine Kultur :-)
Oder kann mir jemand mehr als drei Ausbeuter nennen, die ein Buch/Bild/Tonwerk von bleibendem Wert geschaffen haben (ausser als Maezen a la Guggenheim, versteht sich, und da war´s ja eh nur - "Kulturneid").
Also sind sie dekadent geboren? Ist Dekadenz vielleicht der Normalzustand? Der Standard, gegen den (durch den Klassenkampf von _oben_ nach _unten_) der Mensch sich auflehnen muss, eifrig zum streitbaren Humanismus strebend?
Ach, Politik ist so schwierig.
Zara

Demagogie

Demagogie (gr.) Volksverfuehrung; irrefuehrende Beeinflussung des Volkes durch die Ausbeuterklasse; betrueger. Politik buergerl. od. rechtssozial. Parteien.

[Holms Anmerkung:]
(auf Anfrage Lizards)

Demokratie

[also, der Eintrag ist wirklich lang - wer moechte mir einen Scanner schenken oder leihen?]

Demokratie (lat., Volksherrschaft): Staatsform, Art u. Weise der polit. Machtausuebung, deren Inhalt u. Funktion vom Klassencharakter des Staates u. letztl. von den herrschenden Prod.sverhaeltnissen der jeweiligen Gesellschaft bestimmt wird.
Die D. traegt stets Klassencharakter u. ist in der antagonist. Klassengesellschaft die (oftmals verschleierte) Diktatur der oekonom. u. polit. herrschenden Klasse.
Die buergerl. Auffassung von einer "reinen", angebl. ueber den Klassen stehenden Demokratie, die der Diktatur gegenuebergestellt wird, widerspricht der histor. Wirklichkeit. Sie dient heute dazu, den Klassencharakter der Herrschaft des Monopolkapitals zu verschleiern. Die buergerl. D. beruht auf dem kapitalist. Eigentum an den Prod.smitteln u. hat die Aufgabe, die kapitalist. Gesellschaftsverhaeltnisse zu erhalten. Der Mehrheit des Volkes werden ledigl. formale, materiell nicht gesicherte demokrat. Rechte u. Greiheiten gewaehrt; von den wichtigen Entscheidungen in Staat u. Wirtschaft sowie in den anderen Bereichen des gesellschaftl. lebens bleiben die Werktaetigen weitgehend ausgeschlossen. Trotz der Klassenschranken der buergerl. D. bieten die demokrat. Rechte u. Freiheiten, die von den Volksmassen im Kampf errungen wurden (Presse-, Koalitions- u. Redefreiheit, allg., gleiches u. geheimes Wahlrecht usw.), guenstige Voraussetzungen fuer den Kampf um gesellschaftl. Fortschritt u. Frieden.
Die Arbeiterklasse ist stets an der Erhaltung u. Erweiterung demokrat. Rechte u. Freiheiten interessiert u. kaempft gegen alle Bestrebungen u. Praktiken der Monopolbourgeoisie, diese abzubauen. Die Diktatur des Proletariats is dagegen "auf neue Art demokratisch (fuer die Proletarier u. ueberhaupt fuer die Besitzlosen) u. auf neue Art diktatorisch (gegen die Bourgeoisie)" (Lenin). Deshalb besteht ein prinzipieller Unterschied zw. buergerl. D. u. sozialist. D. Die sozialist. D. ist die hoechste Form der D. Die polit. Macht der Arbeiterklasse u. das sozialist. Eigentuman den Prod.smitteln bilden das Fundament fuer eine wirkl. Volksherrschaft. Unter der Fuehrung der Arbeiterklasse u. ihrer marxist.-leninist. Partei, im festen Buendnis mit den anderen werktaetigen Klassen u. Schichten, werden immer mehr Menschen befaehigt, alle gesellschaftl. Prozesse immer bewusster zu gestalten, werden immer mehr Buerger in die Taetigkeit des sozialist. Staates einbezogen. Alle Buerger haben reale, materiell gesicherte Grundrechte. Sie haben die Moeglichkeit, das polit., wirtschaftl., soziale u. kulturelle Leben umfassen mitzugestalten (z.B. Verfassung der DDR, Art. 21). Die hoechsten Machtorgane sind die gewaehlten Volksvertretungen. Formen u. Moeglichkeiten der Mitberatung u. Mitentscheidung der gesellschaftl. Angelegenheiten durch alle Buerger werden darueber hinaus in allen Bereichen der Gesellschaft staendig erweitert u. ausgebaut. Sozialismus u. D. bilden eine untrennbare Einheit. Die sozialist. D. entwickelt u. vertieft sich mit der gestaltung der entwickelten sozialist. Gesellschaft u. der Schaffung grundlegender Voraussetzungen fuer den allmaehl. Uebergang zum Kommunismus.

[Holms Anmerkung:]
Aechz, das war ein hartes Stueck Arbeit. Man muss es zweimal lesen, um es geniessen zu koennen. Neben der typisch-pervertierten Sprache ist mir aufgefallen, dass man der BOESEN buergerlichen Demokratie diverse Grundrechte zuspricht, zufaellig klingen diese wie die Menschenrechte der UNO. Nun musste sich der Autor kraftig ruehren, um noch die Kurve zu kriegen und ein sozialistisches Gegengewicht zu schaffen. Sehr schoen ist auch der orgiastische Ausblick auf den Kommunismus, der ja selbst von eingefleischten Praktikern als utopisch betrachtet wird.

[Marlenes Anmerkung:]
Hm, ich habe immer gedacht, der Osten haette sich geruehmt eine Demokratie zu sein? Wieso machen die ihn denn dann so nieder? Wahrscheinlich, weil sie mal wieder wissen, dass ihn ihr eigenes Gesuelze nicht geglaubt wird. Aber dann was anderes dameliches zu suelzen ist ja auch keine Verbesserung.. Naja, egal, der Quatsch ist vorbei…
Gruesse
Marlene

[Holms Antwort:]
Ika Geers wrote: Hm, ich habe immer gedacht, der Osten haette sich geruehmt eine Demokratie zu sein? Wieso machen die ihn denn dann so nieder?
Nein, das stimmt nicht ganz. Nach Marx und Lenin ist die Diktatur des Proletariats die volle Erfuellung fuer die Menschheit. Natuerlich hatten sie damit so ihre Probleme, weil der Kommunismus ja selbst nach marxistisch-leninistisch-engelsschen Theorien utopisch ist. Erst, wenn der Sozialismus die ganze Erde ueberwuchert hat, kann die Diktatur des Proletariats fruchtbar um sich greifen. Der Sozialismus ist insofern eine Uebergangsphase.
Da man nun aber erstmal den Kalten Krieg vor sich hatte, musste man ja den Westen niedermachen. Also war der Westen BOESE (tm) und das, was im Osten da war, war wahre Demokratie. Man kann das sehr leicht an einem Fingerspiel nachvollziehen:
Das Motto "Arbeite mit! Plane mit! Regiere mit!" erklaert man am besten, indem man die Hand so an die Tischkante legt, dass der kleine Finger, nach unten abgewinkelt, gegen die Tischkante drueckt. Nun hebe man den Zeigefinger so hoch wie moeglich (Arbeite mit), den Mittelfinger (Plane mit) und den Ringfinger (Regiere mit). Alles klar? :-)
Holm

Ehe

[Nach dem alten Rundfunkmotto "Gewuenscht - gespielt":]

Ehe: (ahd. ewa, "Recht", "ewiges Gesetz"): Lebensgemeinschaft zw. Mann u. Frau, deren Inhalte u. Form durch die jeweiligen Prod.s- und Klassenverhaeltnisse bestimmt werden. In der antagonistischen Klassengesellschaft ist die Ehe durch wirtschaftl. u. jurist. Abhaengigkeit der Frau vom Mann gekennzeichnet. - Die sozialist. Gesellschaft schaft die Voraussetzungen fuer eine wirkl. freiwillige, auf gegenseitiger Zuneigung beruhende E. Die E. dient der Persoenlichkeitsentwicklung der voellig gleichberechtigten E.gatten u. sichert die Erziehung der Kinder. E. u. Familie (siehe dort) stehen nach Artikel 38 der Verfassung der DDR unter dem besonderen Schutz des Staates.
(Es gibt noch ungefaehr ein Dutzend Ableitungen zu Ehe.)

[Holms Anmerkung:]
Natuerlich wird auch hier wieder erstmal mit einem Rundumschlag gegen den boesen Kapitalismus begonnen, um dann zu erklaeren, wie gut es doch im Sozialismus ist. Es ueberbleibt dem demagogisierten Leser ueberlassen zu entscheiden, wo er lieber leben moechte.
Interessant ist an diesem Beitrag in der hier vorgestellten Reihe: Erstmals taucht der Begriff von der "antagonistischen Klassengesellschaft" auf. Antagonistisch war in der DDR ein beliebtes politisches Schlagwort fuer alles, was eigentlich durch die gesetzmaessige Entwicklung der Geschichte des Proletariats schon als laengst ueberholt bezeichnet werden muss. Der Begriff unterscheidet sich in diesem Sinne von der literarischen Bedeutung.

Freie Deutsche Jugend

[Mit leicht epischem Tonfall vorzutragen; lasst Eure Stimmen erbeben!]

Freie Deutsche Jugend, FDJ: 1946 gegr., einheitl. sozialist. Massenorganisation der Jugend der DDR; seit 1948 Mitglied des WBDJ, seit 1949 des ISB; arbeitet unter Fuehrung der SED u. betrachtet sich als deren Helfer u. Kampfreserve. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Jugendlichen zu standhaften Kaempfern fuer die Errichtung der kommunist. Gesellschaft zu erziehen, die im Geiste des Marxismus-Leninismus handeln. Sie sorgt dafuer, dass ihre Mitgl. u. die gesamte Jugend sich als sozialist. Patrioten u. proletar. Internationalisten bewaehren, ihr sozialist. Vaterland als untrennbaren Bestandteil der um die Sowjetunion gescharten sozialist. Staatengemeinschaft staerken u. jederzeit zur Verteidigung des Friedens u. des Sozialismus bereits sind. Als Interessenvertreterin der Jugend ist die FDJ an der Leitung des Staates u.a. durch eine eigene Fraktion in der Volkskammer beteiligt. - Hoechstes Organ: Parlament der FDJ, das den Zentralrat waehlt. Erster Sekretaer des Zentralrats: Egon Krenz. Symbol: Blaue Fahne mit dem Abzeichen der FDJ (Buchstaben FDJ ueber aufgehender Sonne); Gruss: "Freundschaft!"; Tageszeitung: "Junge Welt". Kinderorganisation der FDJ: Pionierorganisation "Ernst Thaelmann", Abb.

[Holms Anmerkung:]
einfach nochmal geniessen. Man beachte den militaerischen Stil und die Aehnlichkeiten zur Sprache des Dritten Reiches. Die FDJ masste sich nicht nur an, ihre Mitglieder zu dogmatisieren, sondern die "gesamte Jugend". Besonders schlimm finde ich im nachhinein, dass die Militarisierung der FDJ noch viel schlimmer war, als sie es uns schien. Gott sei Dank, bin ich noch vor Ende der Lehre aus der FDJ ausgetreten. Sehr deutlich kommt hier auch zum Ausdruck, dass die Moskau-konformen Laender des Ostblocks ganz offensichtlich ein Grossmachtstreben hatten, auch wenn das immer wieder geleugnet wird. Alles in allem ist dieser Lexikon!-Eintrag ein dolles Beispiel deutscher Geschichte und DDRscher Demagogie. Denn der eigentlich lexikalische Teil ist zum Wurmfortsatz eines Kapitels Marxismus-Leninismus reduziert worden. Es fehlt sogar der Hinweis, dass die FDJ im boesen Westen verboten wurde.

Handwerk

Handwerk: Gesamtheit der zur kleinen Warenprod. zaehlenden H.sbetriebe, deren Inhaber private H.smeister od. Mitglieder von PGHs sind. Das H. war eine kennzeichnende Prod.sform des Vorkapitalismus. Unter den Bedingungen des Konkurrenzkampfes im Kapitalismus unterliegt das H. einem gesetzmaessigen Differenzierungsprozess, dessen Ergebnis der Ruin zahlreicher H.sbetriebe ist, waehrend sich ein verschwindend geringer Teil zu kapitalist. Unternehmen entwickelt. Staendig von den kapitalist., insbes. monopolist. Betrieben in seiner Existenz bedroht, ist das H. ein potentieller Verbuendeter der Arbeiterklasse im Kampf gegen die kapitalist. Ausbeutung. In der DDR gibt der sozialist. Staat dem H. auf der Grundlage der sozialist. Planwirtschaft grosse Entwicklungsmoeglichkeiten. Durch freiwilligen Zusammenschluss zu PGHs kommen ihm alle Vorzuege der sozialist. Prod.sweise zugute. Dabei obliegt ihm in erster Linie die Ausfuehrung von Reparatur- u. Werterhaltungsarbeiten, Druchfuehrung von Dienstleistungen u. Befriedigung besonderer Kundenwuensche bei der Herst. hochwertiger Erzeugnisse.

[Holms Anmerkung:]
Dieser Artikel gibt ein paar schoene Beispiele fuer Hoch-DDRsch wider. So wird der Begriff PGH - Produktionsgenossenschaft des Handwerks - nicht ausgefuehrt, sondern als selbstverstaendlich vorausgesetzt. Es wird das Bild vermittelt, dass das Handwerk im Kapitalismus keine Chance hat, waehrend es in der sozialistischen DDR als Ergaenzung (Reparatur) zur zentral gesteuerten Industrialisierung und Intensivierung der Produktion _geduldet_ ist. Sehr schoen ist auch zu erkennen, wie gnaedig das sozialistische Vaterland zu den Hadnwerkern ist, da es ihnen doch sogar den Zusammenschluss in den staatlich kontrollierten Genossenschaften erlaubt.
Ich befuerchte fast, wenn ich das noch oefter mache, werdet Ihr, die Ihr das lest, noch zu guten und aufrechten Kommunisten. :-) Aber die Quintessenz dieser koestlichen Lexikoneintraege ist nach wie vor: Sozialismus - gut, Kapitalismus - schlecht. Eben wie auf der "Farm der Tiere".
[Anmerkung fuer Brunni: "Hacker" steht nicht drin, "Demokratie" ist zu lange (dreimal soviel wie hier, und das ist schon meine Schmerzgrenze des Abtippens), "Humor" ist vglw. unpolitisch erklaert. "Satire" wird als Ueberspitzung der Darstellung ueberholter gesellschaftlicher Vorstellungen beschrieben, worauf Quellen folgen: u.a. Heine und Brecht.]

Informatik

Informatik: (russ., lat.) - wissenschaftliche Disziplin, die Struktur und Eigenschaften (nicht jedoch den konkreten Inhalt) wissenschaftlicher Information untersucht u. die Gesetzmaessigkeiten der wissenschaftlichen Informationstaetigkeit, ihre Theorie, Geschichte, Methodik u. Organisation erforscht. Der Begriff wurde durch die sowjetischen Wissenschaftler eingefuehrt, analog wird in der DDR auch Informations- und Dokumentationswissenschaft (IDW) verwendet.

[Holms Anmerkung:]
Natuerlich haben wir die Informatik den glorreichen Wissenschaftlern der siegreichen Sowjetunion zu verdanken. Jeglicher Hinweis auf die Datenverarbeitung fehlt putzigerweise, vermutlich weil sich "Informatik" im boesen Westen als Begriff fuer das etabliert, was in der DDR gutdeutsch mit Elektronische Datenverarbeitung beschrieben wird.

Menschenhandel

[heute ein kleiner Leckerbissen]
Menschenhandel: Straftat, durch die ein Mensch rechtswidrig zum Aufenthalt in einem bestimmten Gebiet gewungen bzw. in ein ausserhalb der DDR liegendes Gebiet verbracht wird. Wird [M.] zum Schaden der DDR od. sonst im Zusammenhang mit gegnerischen Machenschaften unternommen, DDR-Buerger aus der DDR abzuwerben, zu verschleppen od. auszuschleusen od. an ihrer Rueckkehr zu hindern, liegt staatsfeindl. Menschenhandel vor.

[Holms Anmerkung:]
Das unter der Leitung von Heinz Goeschel stehende Autorenkollektiv hat hier wohl durchgedreht. Die Contenance reicht nicht ueber die erste Zeile hinaus (im Gegensatz zu "Maschine"). Ueberhaupt gibt es Menschenhandel offensichtlich nur zum Schaden der DDR - wobei die Einschraenkung im einleitenden Satz wichtig ist, weil das Lexikon ja sonst zum regimekritischen Bestseller geworden waere, oder?
Was aber augenscheinlich ist, ist dass die getroffenen Hunde bellen: Nicht einmal der Hinweis auf den boesen kapitalistischen Menschenhandel mit z.B. Babies aus Brasilien oder Ehefrauen von den Philippinen ist es wert, von diesem Lexikon erwaehnt zu werden. Und ueberhaupt scheint der Menschenhandel grundsaetzlich zum Schaden der DDR angelegt zu sein, wobei nur der _Vorsatz_ die Erweiterung auf "staatsfeindlich" auszumachen scheint. Sogar das abgekuerzte M. fehlt im 2. Satz im Original.
Insgesamt ein schoenes Beispiel fuer richtige Demagogie, Goebbels haette seine helle Freude daran gehabt. Erschuetternd ist, dass ich tatsaechlich Leute kenne, die heute noch solche oder aehnliche Auffassungen vertreten. D.h., die DDR-Fuehrungsriege hat das schon ueber Jahre hinweg so dargestellt.
BTW: ich wuerde mich natuerlich freuen, wenn der eine oder andere Beitrag zu einer Diskussion fuehren wuerde.
Euer Holm

[Marlenes Anmerkung:]
Diskussion?
Wieso, wir sind doch wohl alle dafuer oder?
Marlene

[Marlenes andere Anmerkung:]
bzw: wer ist dieser goeschel?

[Holms Antwort:]
Offensichtlich der Leiter der Lexikonabteilung des Bibliografischen Instituts Leipzig. Es ist aber auch gut moeglich, dass es ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik am Zentralkomite der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands war.
Holm
P.S.: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich den Titel dieser elitaeren Propagandaschmiede richtig erwischt habe, aber ungefaehr so verworren war er.

MMM Messe der Meister von morgen

MMM Messe der Meister von morgen: polit. Massenbewegung der Jugend aus allen Bereichen des oeffentl. Lebens zur Entwicklung des wiss.-techn. u. oekonom. Schoepfertums; entwickelte sich seit 1958 zu einer Lehr- u. Leistungsschau volkswirtschaftl. bedeutsamer Exponate. Die zu loesenden Aufgaben sind aus den Hauptrichtungen der volkswirtschaftl. Entwicklung, insbes. der sozialist. Intensivierung, u. den Zielen im sizialist. Wettbewerb azuleiten. Die staatl. Leiter, FDJ, FDGB u.a. unterstuetzen die Jugendlichen bei der Realisierung der Vorhaben. Die besten Exponate werden zur zentralen MMM, der Schul-, Betriebs-, Stadt- u. Bezirksmessen vorausgehen, delegiert.

[Holms Anmerkung:]
Gibt es eine epischere Beschreibung fuer "Jugend forscht"?? Ist es nicht toll, wenn Jugendverband, Gewerkschaft und Staat die Jugend lenken und leiten. Und dann springt sogar volkswirtschaftlicher Nutzen dabei heraus. Naja.. das ist doch eine Leistung, wenn einer ein Modell von einem Vulkan auf Kamtschatka baut, das sogar richtig qualmt. Herausragend in diesem Artikel, die Sprache der DDR: "oekonomisches Schoepfertum", "sozialistische Intensivierung". Das alles mag Euch befremdlich vorkommen, im Osten waren es stehende Begriffe.
Intensivierung ist uebrigens eine direkte Folge des Mauerbaus: Da man das Land nicht "erweitern" konnte und kein Geld fuer neue(!) Produktionsmittel (vulgo Maschinen) hatte, musste man aus dem vorhandenen Betrieb (inkl. aller seiner Anlagen) immer mehr herausholen, die Anlagen also _intensiver_ nutzen. Das Gegentum ist Extensivierung, wie sie in der UdSSR bspw. mit Rinderoffenstaellen und Riesen-Herden versucht worden sind.
Noch Fragen?

[Marlenes Anmerkung:]
Ja bitte, Ich haette gern nochmehr Beispiele fuer Exponate. Das mit dem qualmenden Vulkan hat mir schon sehr gut gefallen :-) Sowas wuerde ich auch gern mal bauen. Und wenn man dann noch einen Staatspreis dafuer kriegt…
Marlene

Rechtsstaat

[auf Wunsch von Taus, glaub ich; und ich haette nicht gedacht, dass das drinsteht]

Rechtsstaat: urspr. Forderung des Buergertums nach einem Staat, der gegen Eingriffe in die sog. individuelle Freiheitssphaere Rechtsschutz gewaehrt. Der Begriff R., auch "sozialer R.", wird von der buergerl. Staatslehre mit der imperialist.-militarist. Staatsordnung gleichgesetzt. Da die Rechte der Buerger erst im Sozialismus real gesichert sind, ist erst der sozialist. Straat wirklicher R.

[Holms Anmerkung:]
Na also, was uns noch fehlt zum Gluecklichsein, ist der reale exisitierende Sozialismus. Dann koennen wir uns das mit den Rechtsstaatsgefasel gleich abschminken. Sehr schoen ist an diesem Eintrag, wie die Keule gegen den imperialistischen Westen und den systemimmanenten Militarismus (!) politisch korrekt geschwungen wird. Exzellent auch die leichte Verdrehung der Zuordnung, wer hier was womit gleichsetzt: Der buergerliche Staat setzt den Rechtsstaat schlichtweg mit seiner Staatsordnung gleich, erst die Lexikonschreiber attributieren das dann als "imperialist.-militarist.". Der durch Parteilehrjahr und Aktuelle Kamera geschulte DDR-Buerger weiss natuerlich - voellig klar sehend - dass der Boese (tm) Westen von sich aus "imperialst.- militarist." ist.

Redakteur

Fachkraft in Presse, Rundfunk, Fernsehen, Buchverlag, die Manuskripte auswaehlt, zusammenstellt u. druck- bzw. sendereif bearbeitet (redigiert) oder selbst abfasst, Autoren gewinnt u. anleitet u.a. In der DDR ist abgeschlossenes Hoch- bzw. Fachschulstudium Voraussetzung.

[Holms Anmerkung:]
Dieser auf Anhieb harmlose Lexikoneintrag laesst tief in die Seele des DDR-Staats blicken: Da zwei bzw. ein volles (!) Semester ausschliesslich dem Studium des Marxismus/Leninismus zu widmen waren, erklaert dieser Artikel, dass eine solide Regimetreue gegnueber fachlicher Eignung ueberwogen hat. Insofern ist das symptomatisch fuer die gesamte "Kader"politik in der DDR. Denn auch andere Posten und Funktionen wurden in erster Linie nach Parteibuch und roter Socke besetzt.
Eine Anekdote aus meinem persoenlichen Umfeld soll das illustrieren:
C. wollte Schauspieler werden, also bewarb er sich an einer Schauspielschule. Wegen offensichtlich mangelnder Eignung wurde er abgelehnt. Also gruendete C. einen FDJ-Singeklub (Kampflieder zur Klampfe) und erwarb sich dort sogar einiges an Know-how. Er bewarb sich wieder an einer Schauspielschule und wurde wegen offensichtlich mangelnder Eignung wieder abgelehnt. Also trat C. in die SED ein (wofuer zwei Buergen Voraussetzung sind). Er bewarb sich wieder an einer Schauspielschule und wurde wegen offensichtlich mangelnder Eignung wieder abgelehnt. Also trat C. aus der SED aus, heiratete ein Maedchen aus den nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) und stellte einen Ausreiseantrag wegen Familienzusammenfuehrung.
Holm


[Marlenes Anmerkung:]
hm, die erklaerung war einigermassen verwirrend. nach der einleitung haette c doch trotz mangelnder eignung als sed-kampfsinger an der schhule aufgenommen werden muessen?
malrene

[Holms Antwort:]
Ja, die Anekdote passt nicht wirklich auf das Thema. Manche sind eben so grottenschlecht gewesen, dass nicht einmal ein Parteibuch half (ganz dumm waren die DDR-Buerger ja auch nicht).
Holm

Schlagzeilen vom 23. Dezember 1960

[Da hab ich doch beim Wegraeumen des eh‘ spaerlichen Weihnachtsschmucks (schliesslich kommt bald die CeBIT und dann Ostern) ein Blatt der Saechsischen Neuesten Nachrichten (SNN) gefunden. Dazu muss man wissen, dass dies das Blatt der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NDPD) war. Die wiederum galt unter den SED-Genossen als Partei der Koenigstreuen, der konvertierten NSDAP-Mitlaeufer, etc. - zumindest warfen die das der NDPD so vor - jedenfalls keineswegs als sehr systemkonforme Blockpartei (naja, ein bisschen vielleicht). Ich moechte mir an dieser Stelle jedoch mangels Kenntnis kein Urteil ueber die Rolle der NDPD in der DDR erlauben. Aber wie schon im Dritten Reich: Die Zeitungen waren vom Propagandaministerium gleichgeschaltet worden.

Und die Schlagzeilen moechte ich uns nicht vorenthalten, weil die so schoene in meine Sammlung "DDR-Demagogie" passen (man sieht da auch, dass sich ueber die 20 Jahre von 1960 bis 1980 _nichts_ aber auch gar nichts geaendert hat.

Also, hier die Schlagzeilen der jeweilige Anlauftext:

* Der Sozialismus macht heute Geschichte
- Zustimmungserklaerung zum Moskauer Appell an die Voelker der Welt

* 116000 neue Wohnungen fuer Moskau
- Oberster Sowjet beschloss Volkswirtschaftsplan 1961

* Adenauers Neujahrsbotschaft: Aufruestung
- Bevoelkerung soll Opfer bringen / Koexistenz abgelehnt

* Franz Ossinki und Rolf Bauersachs frei
- Stuermischer Empfang fuer die Karl-Marx-Staedter Buerger

* Sachsenwerk mit 100000 Einheitsmotoren
- Die 32. Poliklinik des Bezirks Dresden uebergeben

* Fuer die Freiheit Patrice Lumumbas
- Aufruf von fuehrenden DDR-Wissenschaftlern und Kuenstlern

* In der UNO: Eine breite Front friedliebender Staaten
- UdSSR-Chefdelegierter schaetzt erste Etappe der 15. Tagung ein

[und der Kommentar fuer diese Nummer]
"Durch Abruestung zur Baendigung des deutschen Militarismus"

Steuer

Steuer - gesetzl. zu erbringende Pflichtleistung (in der Regel in Geldform) an staatl. Organe, der keine spezielle Gegenleistung des Staates (im Unterschied zu Gebuehren u. Beitraegen) gegenuebersteht. Im Sozialismus sind die S. der Genossenschaften u. der Bev. eine Form der obligator. Abgabe eines Teils des Reineinkommens bzw. des persoenl. Einkommens der Bev. an den Staat. Sie stellen nicht nur Haushaltseinkommen dar, sondern sollen auch dazu beitragen, die Genossenschaften zu entwickeln u. zu festigen sowie die Einkuenfte der Bev. zu regulieren S. im Sozialismus dienen der Beduerfnisbefriedigung aller Werktaetigen sowie der planmaessigen proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft durch den sozialist. Staat. Im Kapitalismus dienen S. der Beschaffung von Haushaltsmitteln durch den buergerl. Staat u. der unmittelbaren Einfluzssnahme auf den gesellschaftl. Reproduktionsprozess, auf die Preisbildung u. Einkommenverteilung im Interesse des Monopolkapitals. Sie sind eine Form der zusaetzlichen Ausbeutung der Werktaetigen. Die von den Kapitalisten gezahlten S. werden in der Regel vor allem ueber den Preis auf die Werktaetigen abgewaelzt. -> Steuerabwehr

Steuerabwehr - Gesamtheit der Massnahmen und Methoden, mit denen sich in kapitalist. Staaten die Bourgeoisie einer wirksamen Besteuerung ihres Profits entzieht. Hauptformen sind Steuervermeidung (z.B. durch Velragerung des Unternehmens in Steueroasen), Steuertaeuschung od. Steuerbetrug (zur Minderung der Steuerpflicht verheimlichte od. verschleierte Tatbestaende, z.B. Steuerhinterziehung), Steuereinholung (durch Erhoehung der Arbeitsproduktivitaet und -intensitaet ohne entspr. Lohnerhoehung der Beschaeftigten), Steuerueberwaelzung /Verlagerung der Steuern durch Preisaenderung), z.B. auf den Abnehmer der Ware durch Preiserhoehung oder auf den Lieferanten der Rohstoffe durch Herunterdruecken der Einkaufspreise). Allen Methoden der S. ist gemeinsam, dass durch ihre Anwendung die Steuerlast weitgehend auf die Werktaetigen verlagert wird.

Steuerbetrug → Steuerabwehr

[Holms Anmerkung:]
Also Sozialismus = gut, Kapitalismus = boese! Hoffentlich habt Ihr das jetzt kapiert. Besonders interessant ist in den laengeren Abschnitten dieses Lexikons die Verwendung von Abkuerzungen, so wird das "ische" hinter den weithin durch "Aktuelle Kamera" (= Ost-Tagesschau) und "politische" Magazine bekannten Adjektiven als logisch vorausgesetzt, waehrend Formulierungen wie "in der Regel" ausgeschrieben werden. Mithin interessant ist, dass Steuern im Sozialismus praktisch gar keine Steuern sind.
Das Thema Steuern schien mir aus aktuellem Anlass passend :-)

[Marlenes Anmerkung:]
Wobei es ja _nicht_ganz_ falsch ist, was die Ossis da ueber Steuervermeidung bei Kapitalisten schreiben…

Zensur

Zensur - (lat) - 1. allgemein: Beurteilung, Bewertung, (behoerdl.) Pruefung.

2. Bildungswesen: Ergebnis der Einschaetzung von Schuelerleistungen nach einer festgelegten Bewertungsskala, zumeist mit den Praedikaten sehr gut, gut, befriedigend, genuegend, ungenuegend; in abgekuerzter Form in Gestalt der Benotung (in der DDR 1, 2, 3, 4, 5; in der UdSSR u. einigen anderen Laendern in umgekehrter Reihhenfolge); soll Leistungen objektiv bewerten u. die Persoenlichkeitsentwicklung foerdern.

[Holms Anmerkung:]
Zensur als Mittel sprachlicher Kontrolle gibt es in einem sozialistischen Staat nicht, und deshalb steht das auch nicht im Lexikon. Besonders huebsch ist in diesem Eintrag die gestelzte Sprache.

Quellenangabe

Meyers Universal Lexikon.
VEB Bibliographisches Institut, Leipzig 1980.
3. Auflage, überarbeiteter Nachdruck (176. - 275. Tsd.)
Redaktionsschluß: Mai 1978
Redaktionsschluß der Überarbeitung: Januar 1980
Liz.-Nr.: 433130/198/80, Karten D 4/1/80 - LSV 9807
Printed in the German Democratic Republic
[…]
Best.-Nr. 5769702
DDR 29,80 M

Herausgegeben von der Lexikonredaktion des VEB Bibliographisches Institut Leipzig.
Leitung: Heinz Göschel. Leitender Lektor: Annette Zwahr.


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