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Dies ist eine Geschichte aus der Dresdner Neustadt im Spätsommer 1989. Ob Herr Fritzsche (Name geändert) das letzte Maueropfer war, weiß ich nicht. Aber ich bin davon überzeugt, dass sein Tod direkt der Mauer zuzuschreiben ist.

Hinterhausfassade mit Mauer und zu beiden Seiten Mülltonnen

ZUM 13. AUGUST 2011

Das letzte Maueropfer

Dresden im Frühjahr 1989. Die Dresdner Neustadt verfällt weiter. Nachdem wir schon seit einigen Monaten kein Gas hatten, hatten wir vor zwei Wochen auch kein Wasser mehr. Die Wohnungsverwaltung redete sich auf den Fachkräftemangel und fehlendes Material hinaus. Aber schließlich hatten sie die Wasserversorgung wiederhergestellt. Ein paar Tage später komme ich von der Frühschicht und gehe durch den Hof. In Höhe Erdgeschossdecke zieht sich das Gasrohr an dem Werkstatthäuschen entlang zum Hinterhaus. Seit zwei Jahren strömt kein Gas mehr ins Hinterhaus. Wenigstens liegt bei uns nicht so viel Schutt, wie beim Nachbarhaus. Ich blicke hinauf zu meinem Fenster. Aus der darüber liegenden Wohnung ruft Andreas, ich solle unbedingt bei ihm vorbeikommen, seine Frau wäre im Krankenhaus.

Ich gehe also schnell bis nach oben. Die Wohnung sieht wie immer aus: Nicht ganz aufgeräumt und der Couchtisch voller leerer Bierflaschen, Wodkaflaschen und leerer Tablettenpackungen: „Willsdn Bier? Weißde, chmuss ma mit jemandem reden. Meine Frau hatte nämlich ’n ebilebtischen Anfall. Sie haben sie grade ins Krankenhaus gefahrn.“ Ich bekomme ein Bier angeboten und höre dem Nachbarn zu. Ja, ja. Ein epileptischer Anfall ist mit der Menge an Tabletten und Alkohol sicherlich bei einigen menschlichen Gehirnen die Konsequenz. Nachdem sich der Nachbar dann ausgesprochen hatte, ging ich wieder meiner Wege.

Es blieb auch eine Weile friedlich, da im Hinterhaus in der Dresdner Neustadt. Die Leute im Haus waren ja eigentlich ganz nett. Die Wohnungen im Erdgeschoss waren nicht mehr bewohnt. Auch die Wohnung gegenüber meiner und die Wohnung oben links standen leer. Es war ja auch nicht wirklich ein schönes Wohnen, auch wenn man mit Tapete und neuen Möbeln und schicken Kunststoffjalousetten aus dem Intershop so einiges draus machen konnte. Gegen die, aufgrund des fehlenden Außenputzes klammen Wände konnte man hingegen nicht viel machen. Nur heizen, heizen, heizen.

Dabei hatte man in unserem Hinterhaus nach hinten sogar eine gewisse „Aussicht“, weil die Fabrikgebäude aus der Gründerzeit, die noch im Inneren des Häuserblocks steckten, kaum über den ersten Stock hinaus reichten.

Auch Familie Fritzsche im ersten Stock bekam so ein bisschen Abendsonne ab. Die Fritzsches waren ein Ehepaar, Ende 50, und sehr freundlich. Die rundlich-robuste Frau Fritzsche wirkte in ihrer Kittelschürze stets ein wenig reserviert. Herr Fritzsche kümmerte sich etwas um die dringlichsten Sachen im Hof, zum Beispiel wenn die Tür vom Vorderhaus nicht richtig schloss. Im Winter schippte er Schnee. Auch ohne offizielle Hausmeisterfunktion. Die Fritzsches waren bescheiden und höflich. Sie hatten auch Kinder, die sie regelmäßig besuchten. Ansonsten hörte man von Familie Fritzsche ganz gewiss nicht soviel wie von dem jungen Pärchen in der Wohnung über mir. So war das, in meinem Haus, in der Dresdner Neustadt, Ende der 80er.

Die Dresdner träumten von Glasnost und Perestrojka. Insgeheim träumten manche von Mallorca oder New York. Viele haben sich auf den Weg gemacht, nachdem in Ungarn der Eiserne Vorhang durchlässiger geworden war. Die Menschen fingen an, immer lauter über das DDR-System zu schimpfen. Die Agonie des Staates war überall zu spüren, auch wenn die Versorgung mit Grundsätzlichem viel besser funktionierte als vielleicht in Rumänien. Was dort los war, las man sich beim kleinen Frühstück in unserem Betrieb aus den deutschsprachigen rumänischen Tageszeitungen vor. In Kirchenkreisen, wo es stets mehr zu erfahren gab als im Fernsehen der DDR, sammelten wir Seife und andere Hygieneartikel für Rumänien. So ging es uns im Hinterhaus in der Dresdner Neustadt also eigentlich ganz gut. Wir hatten zu essen. Man besuchte sich und sprach miteinander. Mangels Telefon ging man auch einfach mal unangemeldet zu Freunden. Man traf sich regelmäßig in der Lieblingskneipe.

Als ich im September 1989 von der Arbeit kam und zu meiner Wohnung stiefelte, stand Frau Fritzsche aufgelöst und verwirrt vor ihrer offenen Wohnungstür. Als ich sie grüßte, merkte ich, dass etwas nicht stimmte und blieb stehen.

„Mein Mann ist tot, hat sich aufgehängt, heute Vormittag“, sagte Frau Fritzsche: „Unsere Tochter ist doch im Juni über die Tschechei abgehauen. Dabei war sie doch das Wichtigste, was er hatte.“

Ach, hätte Herr Fritzsche doch einfach nur noch ein paar Wochen durchgehalten. Doch seine Angst, dass er seine Tochter nie wieder sehen dürfe, hat die Seele aufgefressen.

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